Die Düsseldorfer „STATTZEITUNG TERZ“ berichtet in ihrer Ausgabe September 1999 unter dem Titel „Düsseldorfer Neonazis bewaffnen sich?“ in einem Kurzbericht über einen von Ralf S. auf der Gerresheimer Straße in Düsseldorf-Flingern betriebenen Militaria-Laden, der eng mit der lokalen Neonazi-Szene verbunden sei.
Zwei von Zeug*innen als Neonazis in martialischem Outfit beschriebene Personen bauen sich über mindestens zwei Wochen täglich vor Unterrichtsbeginn mit Hunden bedrohlich und einschüchternd vor denjenigen Räumlichkeiten auf der Gerresheimer Straße auf, in denen ein Sprachkurs für osteuropäische Migrant*innen stattfindet. Unmittelbar gegenüber befindet sich der Militaria-Laden von Ralf S., vor dem und in dem sich die beiden – Zeug*innenaussagen zufolge – temporär aufhalten und mit dessen Inhaber sie in Kontakt stehen.
Ralf S. mietet – obwohl zahlungsunfähig und bei seiner Lebensgefährtin wohnhaft – wenige hundert Meter von der gemeinsamen Wohnung entfernt eine zusätzliche Wohnung für sich auf der Gerresheimer Straße 13 an, die ihm ab Januar 2000 zur Verfügung steht. Anfang September 2000, also etwa fünf Wochen nach dem Anschlag, zieht er nach Kündigung und Räumungsklage durch den Vermieter aufgrund von Mietrückständen wieder aus. Die Ermittlungsbehörden sehen in dieser Wohnung die „Bombenbau-Wohnung“.
Aus einer Gruppe von sieben Personen, die gerade von einer Probe der Neonazi-Band „Reichswehr“ kommen, werden auf dem S-Bahnhof Derendorf zwei Männer mit Migrationshintergrund angepöbelt und angegriffen. Einer der beiden wird auf die Schienen geprügelt und verletzt, kann sich aber mit Hilfe seines Begleiters gerade eben noch retten. Dieser Angriff steht beispielhaft für eine Vielzahl rechter Angriffe im Jahr 2000 in NRW – vor und auch nach dem Wehrhahn-Anschlag.
Ein Mann, der auf einem Stromkasten am Rande des S-Bahnhofs Düsseldorf-Wehrhahn sitzt, aktiviert mit Sichtkontakt auf den Fußgängertunnel am S-Bahnhofseingang Ackerstraße per Fernzündung eine selbstgebaute und mit TNT gefüllte Rohrbombe, die sich in einer Plastiktüte befindet, die dicht am Tunnel am Geländer der Fußgängerbrücke hängt. Zu diesem Zeitpunkt betritt gerade eine Gruppe von 12 Sprachschüler*innen aus dem Tunnel kommend die enge Fußgängerbrücke. Zehn Personen werden verletzt, darunter einige schwer und lebensgefährlich.
Nach Hinweisen aus der Bevölkerung auf einen möglichen Täter verabredet sich der Polizeiliche Staatsschutz Düsseldorf mit Ralf S. und durchsucht 45 Minuten lang sehr oberflächlich seine Privatwohnung und sein Ladenlokal. Auf Bitte der Beamten begleitet Ralf S. diese zum Polizeipräsidium, lässt sich vernehmen, bricht die Vernehmung dann aber mit Hinweis auf seinen in der Wohnung befindlichen Hund und eine laufende Waschmaschine vor deren Beendigung ab. In den folgenden Tagen folgen zwei weitere Vernehmungen sowie am 4. August 2000 durch die inzwischen eingerichtete „Ermittlungskommission Ackerstraße“ eine Durchsuchung von vier Objekten, in denen Ralf S. sich im Alltag aufhält. Da aber der richterliche Durchsuchungsbeschluss erst Stunden nach dem Anrücken der Polizei und Presse eintrifft und damit die Durchsuchungen erst sehr verspätet starten können, läuft auch hier nicht alles reibungsfrei – und der Durchsuchte ist vorgewarnt. Beweisstücke, die eine Festnahme rechtfertigen würden, werden nicht gefunden.
Um die 2.000 Menschen demonstrieren in Düsseldorf unter dem Motto „Stoppt den Nazi-Terror! Faschistische Strukturen zerschlagen!“. Organisiert wird die Demo von antifaschistischen Gruppen. Unter den Aufrufenden ist neben dem Kreisverband und der Ratsfraktion der PDS, dem Kreisvorstand und der Ratsfraktion der Düsseldorfer „Grünen“ auch die Düsseldorfer SPD-Ratsfraktion, von der aber nur Ratsherr Alfred Syska gesichtet wird, der sogar in der ersten Reihe der Demo mitgeht und auch namentlich den Aufruf zur Demonstration unterstützt. Die allermeisten Teilnehmenden kommen aus dem linken Spektrum, nur wenige aus dem bürgerlichen. Dennoch wird die Demo auch von konservativen Kräften im Nachhinein als Beleg für ein weltoffenes und tolerantes Düsseldorf, das sich gegen Rechtsaußen positioniert, benutzt.
Im Leo-Baeck-Saal findet unter dem Titel „Toleranz und Zusammenleben in Düsseldorf“ eine Podiumsdiskussion der SPD statt. Auf dem Podium sitzen Paul Spiegel (Zentralratspräsident), Michael Müller (MdB, SPD), Karin Kortmann (MdB, SPD), Brigitte Speth (MdL, SPD, Parteivorsitzende KV Düsseldorf), Marlies Smeets (ehrenamtliche Bürgermeisterin, SPD) und als Moderator Prof. Ulrich von Alemann (Professor für Politikwissenschaften, Heinrich Heine Universität Düsseldorf).
Das Spiel, bei dem der ehemalige Nationalspieler Stephan Baeck für Maccabi spielt, findet in der Sporthalle des Rückert-Gymnasiums in Düsseldorf-Rath statt. Die Schirmherrschaft haben Ministerpräsident Wolfgang Clement und Zentralratspräsident Paul Spiegel inne. Der Erlös – fast 10.000 DM sowie weitere 10.000 DM aus der Versteigerung eines Spieler-Shirts und eines signierten Basketballs – kommt den Opfern des Bombenanschlags zugute.
In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober verüben zwei arabischstämmige junge Männer einen Brandanschlag auf die Synagoge Düsseldorf. Dank des Eingreifens einer Nachbarin bleibt der entstandene Schaden gering. Menschen kommen nicht zu Schaden.
Die Ermittlungen gegen Ralf S. werden eingestellt, weil laut übereinstimmender Auffassung der Staatsanwaltschaft und Polizei keine „objektivierbaren Anhaltspunkte für eine Beteiligung an der Straftat“ vorhanden seien und S. zudem „offenbar nicht in der Lage“ sei, „ausgefallene Gegenstände aus dem Waffenbereich herzustellen oder […] zu besorgen“. Nach Angaben des Ermittlungsleiters hätte es ab Ende 2001 keine weiteren Ansätze gegeben. Auch alle anderen Spuren verlieren sich, so dass die Ermittlungskommission EK Acker ab 2002 bis zur endgültigen Auflösung nach einigen Jahren nur noch aus ihrem Leiter als „alleinigem Sachbearbeiter“ besteht.
In der Folge der Selbstenttarnung der rechtsterroristischen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) wird der Leiter der Ermittlungskommission reaktiviert, um einen möglichen Zusammenhang zwischen NSU und Wehrhahn-Anschlag zu prüfen, wofür sich aber letztendlich keine Belege finden.
Das nordrhein-westfälische Landesamt für Verfassungsschutz informiert den Ermittlungsleiter über einen 1999/2000 geführten Neonazi-V-Mann („Apollo“) im direkten Umfeld von Ralf S. – und gibt ihrem ehemaligen V-Mann unaufgefordert ein Alibi für den Tatzeitpunkt des Wehrhahn-Anschlags, obwohl dieser zu diesem Zeitpunkt längst „abgeschaltet“ war. Insgesamt zeigt sich der VS bei der Aufklärung des Wehrhahn-Anschlages kooperationsunwillig und behindert die Aufklärung eher, als dass er sie unterstützt.
Der Zeuge Andreas L., zu diesem Zeitpunkt ebenso wie Ralf S. wegen Delikten, die nichts mit dem Wehrhahn-Anschlag zu tun haben, in der JVA Castrop-Rauxel inhaftiert, wendet sich an das JVA-Personal und berichtet davon, dass S. ihm gegenüber damit geprahlt habe, den Wehrhahn-Anschlag verübt zu haben. Dabei habe S. zahlreiche Details genannt, von denen einige später als „Täterwissen“ eingeschätzt werden.
Aufgrund der als glaubwürdig eingeschätzten Zeugenaussage von Andreas L. (siehe 3. Juli 2014) und der staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Einschätzung, dass Ralf S. in seinem Gespräch mit Andreas L. Täterwissen offenbart habe, bildet sich unter Leitung des neuen Chefs der Polizeilichen Staatsschutzes Düsseldorf die „Ermittlungskommission Furche“, die die Ermittlungen gegen Ralf S. wieder aufnimmt und fortan Beweismittel sammelt, die eine Festnahme und Anklage gegen S. ermöglichen sollen.
Der Landtag NRW beschließt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum NSU-Terror in Nordrhein-Westfalen (PUA NSU). Dieser soll nicht nur ein „mögliches Fehlverhalten nordrhein-westfälischer Sicherheits- und Justizbehörden einschließlich der zuständigen Ministerien und der Staatskanzlei und anderer Verantwortlicher betreffend der Aktivitäten der rechtsterroristischen Gruppierung NSU und eventueller Unterstützerinnen und Unterstützer“ untersuchen; auch weitere schwere Straftaten mit einem mutmaßlich rechts motivierten Hintergrund stehen auf der Agenda – so auch der Wehrhahn-Anschlag. Der PUA nimmt seine Arbeit im Januar 2015 auf und vereinbart hinter den Kulissen mit der Polizei, das Thema Wehrhahn erst nach der Festnahme von Ralf S. zu behandeln, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Doch die Festnahme lässt noch zwei Jahre auf sich warten.
NSU-Watch NRW und LOTTA – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen veröffentlichen einen umfangreichen Artikel, der erstmals nach vielen Jahren die bis dahin vorliegenden Erkenntnisse zum Wehrhahn-Anschlag und zu dessen (Nicht)Aufklärung zusammenfasst. Am 26. Mai 2015 folgt eine gut besuchte Veranstaltung in der antifaschistischen Veranstaltungsreihe INPUT im Düsseldorfer Kulturzentrum ZAKK (NSU-Watch NRW, LOTTA).
Auf einer Pressekonferenz in Düsseldorf informieren Polizei und Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeit über die am Vortag erfolgte Festnahme von Ralf S. Man sei überzeugt, dass er der Täter sei und habe ausreichend Beweismittel für eine Anklage und Verurteilung gegen ihn zusammengetragen. Dennoch seien die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Zwei Tage später führt das antirassistische Bündnis „Düsseldorf stellt sich quer“ eine kleine Kundgebung am S-Bahnhof Wehrhahn durch. Motto: „Schaut hin! Rassistische Anschläge sind Normalzustand! Es wird Zeit, endlich Licht ins Dunkel zu bringen!“
Aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen gegen Ralf S. beschäftigt sich der PUA NSU erst jetzt und damit viel zu spät und auch nur wenige Stunden mit dem Wehrhahn-Komplex. Eine umfassende Untersuchung der Ermittlungen unterbleibt. Es werden nur drei Zeugen von Polizei und Staatsanwaltschaft gehört. Im Vordergrund steht angesichts der Festnahme von Ralf S. eher ein Abgesang darauf, dass der „Fall“ ja jetzt geklärt sei und das Stillschweigeabkommen zwischen PUA und Staatsanwaltschaft erfolgreich gewesen sei. Forderungen von NSU-Watch NRW und anderen nach Einsetzung eines neuen PUA speziell zu den Wehrhahn-Ermittlungen sind bis heute erfolglos.
In diesem Abschlussbericht werden auch die Ermittlungen zum Wehrhahn-Anschlag thematisiert – ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn (siehe Sitzungen des NSU-PUA am 7. und 17. Februar 2017).
Am Vorabend des Prozessbeginns findet eine Informations- und Diskussionsveranstaltung zum Wehrhahn-Anschlag in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf statt. Vor etwa 60 Besucher*innen sprechen u.a. Herbert Rubinstein, zum Zeitpunkt des Anschlags Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, JGD-Geschäftsführer Michael Szentei-Heise, Monika Düker (MdL Bündnis 90/Die Grünen) und Jürgen Peters (Antirassistisches Bildungsforum Rheinland). Monika Düker stellt die Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Wehrhahn-Komplex in Aussicht, will aber erst einmal den Prozess abwarten. Später ist hiervon keine Rede mehr.
Vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf wird der Strafprozess gegen Ralf S. eröffnet. Der Vorwurf: versuchter Mord in zwölf Fällen durch Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion.
Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf ordnet nach 24 Hauptverhandlungstagen die Entlassung von Ralf S. aus der Untersuchungshaft an. Man sähe „keinen dringenden Tatverdacht mehr“.
Erstmals am 26. Prozesstag des Strafprozesses gegen Ralf S. werden auch drei beim Wehrhahn-Anschlag verletzte Personen angehört bzw. als Zeug*innen befragt. Sie berichten von zum Teil lebensgefährlichen Verletzungen, unter deren Folgen sie immer noch leiden würden. Eine Betroffene schildert, dass die Wucht der Bombe sie fast über das Geländer der Brücke gedrückt habe. Beobachtungen zu möglichen Täter*innen hatten alle am Tattag nicht gemacht. Eine Betroffene sagt aus, sie hätte den Angeklagten damals lediglich aufgrund seiner auffälligen Kleidung und seines Geschäfts in der Nähe der Sprachschule wahrgenommen. Fünf Betroffene treten auch als Nebenkläger*innen während des Prozesses auf, einige fordern über ihre Nebenklagevertretung eine Gedenktafel am S-Bahnhof Wehrhahn, die an den Anschlag erinnern soll.
Vor dem Eingang Ackerstraße des S-Bahnhofs Wehrhahn findet die erste Gedenkkundgebung statt. Aufgerufen hatten u.a. antifaschistische Gruppen und das antirassistische Bündnis „Düsseldorf stellt sich quer“, unterstützt von der Nebenklage, der Opferberatung Rheinland und der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.
Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf spricht den Angeklagten Ralf S. am 34. und letzten Hauptverhandlungstag frei.
Die Forderung der Betroffenen und der Opferberatung Rheinland (OBR) nach einem Erinnerungszeichen findet bei der Stadt Düsseldorf endlich Gehör. Nach einem Abstimmungsprozess, an dem auch die OBR und die Jüdische Gemeinde Düsseldorf beteiligt sind, werden 20 Jahre nach dem Anschlag eine Gedenktafel an der Ackerstraße und das künstlerische Erinnerungszeichen „Spuren 2020“ am Ort der Explosion angebracht. Zur ersten offiziellen Gedenkkundgebung der Stadt kommen über 100 Personen, darunter auch der Oberbürgermeister. Mit Ekaterina Pyzova ergreift auch eine Betroffene das Wort und kritisiert Politik und Behörden, von denen sie sich im Stich gelassen fühlt. Die Jüdische Gemeinde verweist auf die Verunsicherung, die Juden und Jüdinnen seit damals nicht mehr losgelassen habe und auf die Bedrohung durch den aktuellen Antisemitismus. (Video auf Youtube)
Der Bundesgerichtshof entscheidet als oberste Instanz über die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts: Die Überprüfung des Urteils habe „keinen Rechtsfehler ergeben. Das Urteil ist somit rechtskräftig.“
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