Antisemitismus in Düsseldorf

Der Wehrhahn-Anschlag hatte einen extrem rechten, antisemitischen, rassistischen und antislawistischen Hintergrund. Auch wenn die Tat juristisch nicht abschließend aufgeklärt werden konnte und die vorliegenden Indizien nicht ausreichten, um den mutmaßlichen Täter zu überführen, besteht an der Motivation kein ernsthafter Zweifel.1. Der Tatverdächtige betrieb in unmittelbarer Nähe zum Tatort ein Militaria-Geschäft und war in der extrem rechten Szene aktiv. Auch wurden bereits vor dem Anschlag aus dem Umfeld seines Ladens Feindseligkeiten gegenüber den Schüler*innen einer nahegelegenen Sprachschule verübt. Die Menschen, die am 27. Juli 2000 durch den Anschlag teilweise schwer verletzt wurden – eine Frau verlor dabei ihr Ungeborenes – stammen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die Hälfte von ihnen war Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Dieser Akt des Terrors reiht sich ein in die lange Abfolge antisemitischer Gewalttaten, die die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen durchzieht.

Mit dem vorliegenden Artikel soll anhand einer Reihe von Vorfällen und Akteurskonstellationen am Beispiel Düsseldorfs veranschaulicht werden, wie unterschiedlich sich zeitgenössischer Antisemitismus ausdrücken kann und dass es zu kurz greifen würde, ihn nur als Merkmal politischer Randgruppen zu verstehen, auch wenn die extreme Rechte in vielen Fällen antisemitischer Gewalt eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt(e). Der lange vorherrschenden Praxis, Antisemitismus pauschal als überwiegend extrem rechtes Phänomen einzustufen, muss entschieden widersprochen werden. In Anbetracht der zahlreichen schwersten Angriffe, die beispielsweise von linksterroristischen Gruppierungen oder auch palästinensischen Terrororganisationen verübt worden sind, ist eine solche Einstufung historisch nicht haltbar. Auch die Entwicklungen der letzten Jahre belegen in aller Deutlichkeit, dass Antisemitismus als auf Jüdinnen*Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren Rechtfertigung2 (Detlev Claussen) ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, welches als milieuübergreifende globale Integrationsideologie (Samuel Salzborn) fungiert und mit den unterschiedlichsten politischen oder religiösen Motiven verknüpft wird. Daher soll hier ein Einblick gegeben werden, wie omnipräsent antisemitische Ressentiments in allen Teilen der Gesellschaft artikuliert werden, was für die Betroffenen ein potenziell alltagsprägendes Problem und eine kontinuierliche latente Bedrohung darstellt.

Die Tatsache, dass es erst 20 Jahre nach dem Wehrhahn-Anschlag eine offizielle Gedenkveranstaltung der Stadt Düsseldorf gegeben hat, verweist auf einen weiteren relevanten Aspekt für den Umgang mit Antisemitismus in der Gesellschaft. Immer wieder berichten von Antisemitismus Betroffene, dass neben den unmittelbaren Auswirkungen des jeweiligen Vorfalls die Reaktionen des gesellschaftlichen Umfelds, in dem es dazu gekommen ist, entscheidend sind. Viel zu häufig beschreiben die Betroffenen die Reaktionen als gleichgültig bis relativierend, wodurch es oftmals zu Formen sekundärer Viktimisierung kommt und die Betroffenen mit ihren Erfahrungen im Stich gelassen werden. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als beschämend, dass über so viele Jahre kein würdiges Gedenken am Anschlagsort durch die Lokalpolitik veranlasst worden ist und auch die konkrete Unterstützung der Betroffenen allein aus der Zivilgesellschaft heraus erfolgte.

Seit dem Wehrhahn-Anschlag ist mittlerweile ein Vierteljahrhundert vergangen, in dem insbesondere auf der weltpolitischen, aber auch auf regionaler wie lokaler Ebene in immer kürzeren Abständen einschneidende Ereignisse und Entwicklungen stattgefunden haben, welche die Ausbreitung antisemitischer Ressentiments entweder begünstigt haben oder aber ein Symptom hiervon darstellen. Gleichzeitig sollte festgehalten werden, dass der Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne (Samuel Salzborn) eine markante Kontinuität aufweist, die aller Anpassungsfähigkeit an tagesaktuelle Dynamiken zum Trotz eines seiner zentralen Wesensmerkmale darstellt.

Sowohl für die Kontinuität als auch für die tagespolitische Dynamik lassen sich in der Düsseldorfer Geschichte und Gegenwart zahlreiche Beispiele finden, welche die Allgegenwärtigkeit der antisemitischen Bedrohung eindrücklich veranschaulichen und deshalb anhand einiger Schlaglichter dargestellt werden sollen. So wurde z.B. die Neue Synagoge der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, welche die von den Nationalsozialist*innen zerstörte Synagoge an der Kasernenstraße ersetzte, bereits kurz nach ihrer Einweihung im Januar 1959 mit Hakenkreuzen beschmiert.3

Ein weitgehend unbekannter Anschlagsversuch ereignete sich im Jahr 1972, als eine in Singapur abgeschickte Briefbombe im Nelly-Sachs-Haus, dem Elternheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, einging, glücklicherweise ohne zu detonieren.4

Der alte jüdische Friedhof in Düsseldorf-Gerresheim wurde am 31.3.1986 durch Jugendliche geschändet, die 14 Grabsteine umstießen und zerstörten5. Zwei Jahre zuvor, im Februar 1984 wurde das Gebäude der ehemaligen Synagoge in Gerresheim durch einen Brandanschlag zerstört6. Im November 1991 kam es zu einer weiteren antisemitisch motivierten Friedhofsschändung in Düsseldorf.7

Kurze Zeit nach dem Wehrhahn-Anschlag gab es in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 2000 einen weiteren gewalttätigen Angriff, bei dem zwei arabischstämmige junge Männer das Düsseldorfer Gemeindezentrum, das sich einem Gebäude mit der Synagoge befindet, mit einem Brandsatz attackierten. Da die Täter zunächst unerkannt blieben, wurde seitens der Politik ein extrem rechter Hintergrund vermutet und es kam durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zu dessen vielzitierten Ausrufung des „Aufstands der Anständigen“ zur Bekämpfung des grassierenden Rechtsextremismus. Auch gab es am Tag nach der Tat eine antifaschistische Solidaritätskundgebung vor der Synagoge. Als die Täter schließlich verhaftet wurden, stellte sich jedoch heraus, dass der Angriff auf eine israelfeindliche Motivation zurückzuführen war. Anhand dieser Tatsache wird deutlich, dass israelbezogener Antisemitismus keineswegs als vermeintlich neuartiges Phänomen bewertet werden kann, sondern auch in Düsseldorf bereits seit vielen Jahren eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt.

Düsseldorf nimmt insgesamt aus mehreren Gründen eine bedeutsame Rolle ein, wenn das allgemeine Ausmaß von Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen in den Blick genommen werden soll. So folgt aus dem Status als Landeshauptstadt eine entsprechende Relevanz für das politische Versammlungsgeschehen wie Kundgebungen und Demonstrationen, bei denen es immer wieder zu antisemitischen Äußerungen und Vorfällen kommt. Als Zentrum der Landespolitik ist auch die Zusammensetzung des Landtags von Bedeutung, bei der insbesondere die AfD-Fraktion als parteipolitisches Projekt mit antisemitischen Bezugspunkten8 zu erwähnen ist. Die Ideologie der AfD ist an vielen Stellen von antisemitischen Verschwörungsfantasien und geschichtsrevisionistischen Forderungen geprägt. Eine vermeintlich pro-israelische Haltung der Partei, die in verschiedenen Anfragen im Landtag zum Ausdruck gebracht wurde, ist auf eine Instrumentalisierung aufgrund rassistischer und antimuslimischer Ressentiments zurückzuführen und eignet sich nicht als Nachweis einer tatsächlich antisemitismuskritischen Positionierung.

Antisemitismus in der extremen Rechten

Auch wenn sich Formen von Antisemitismus in allen politischen und gesellschaftlichen Milieus feststellen lässt, ist er doch nach wie vor ein genuiner Bestandteil extrem rechter Ideologie. Obwohl Düsseldorf in der öffentlichen Wahrnehmung in der Regel nicht als Schwerpunkt extrem rechter Aktivitäten gilt, sind in den letzten Jahren verschiedene Akteur*innen und Organisationen in Erscheinung getreten. Ebenso kam es immer wieder zu Vorfällen, die einen extrem rechten Hintergrund haben. So wurde der jüdische Friedhof am 28.06.2004 erneut geschändet, wobei 41 Grabsteine mit NS-Symbolik und Hassparolen beschmiert wurden.9 Nur wenige Tage später, am 09.07.2004, wurde das Wohnhaus einer politisch aktiven Familie von Neonazis angegriffen, die dabei u.a. „Juden raus“ riefen.10 Am 10.06.2013 wurde das Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten Juden mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert.11

Der im Dezember 2014 gegründete lokale Ableger der islamfeindlichen PEGIDA-Aufmärsche „DÜGIDA“ war analog zum Dresdner Vorbild geprägt von antisemitisch grundierten Verschwörungserzählungen im Sinne des sog. „Großen Austauschs“. Dabei handelt es sich um eine extrem rechte Verschwörungstheorie einer vermeintlich planvollen Steuerung einer massenhaften Zuwanderung nichteuropäischer Migrant*innen zur Ersetzung der weiß-deutschen Mehrheitsbevölkerung.

Als eine Schlüsselfigur der bundesweiten extremen Rechten ist der Düsseldorfer Rechtsanwalt Björn Clemens zu bezeichnen, der sich im Rahmen seiner juristischen Tätigkeit immer wieder für notorische Antisemit*innen bis hin zu Shoah-Leugner*innen einsetzt. Zudem ist er Mitglied der extrem rechten Burschenschaften Rhenania-Salingia und Rheinfranken Marburg. Auch darüber hinaus engagiert(e) sich Clemens sowohl auf parteipolitischer Ebene, v.a. bei den Republikanern, als auch im nicht parteigebundenen Spektrum als Redner auf Demonstrationen sowie als Publizist.

Extrem rechte Parteien wie Die Heimat (ehemals NPD) oder Der III. Weg sind in der Landeshauptstadt zwar öffentlich weniger wahrnehmbar, sollten aber deshalb keineswegs unterschätzt werden. Auch muss von einem zahlenmäßig zwar überschaubaren, aber dafür ideologisch gefestigten und gewaltbereiten Personenkreis ausgegangen werden.

Ein erst vor wenigen Jahren in Erscheinung getretener Akteur ist die zeitweise bürgerwehrähnlich aufgetretene Bruderschaft Deutschland, die u.a. aufgrund von Verbindungen zur rechtsterroristischen Gruppe S. auch im Fokus der Strafverfolgungsbehörden stand und sich offenbar in diesem Zusammenhang im Sommer 2022 auflöste. Auch dieses Beispiel zeigt deutlich, dass in Düsseldorf ein gewisses aktions- und gewaltorientiertes Mobilisierungspotenzial vorhanden ist.

Das heterogene Milieu sogenannter Reichsbürger*innen, Souveränist*innen und Anhänger*innen vergleichbarer Ideologien, die auf antisemitisch grundierten Verschwörungsfantasien basieren, ist in Düsseldorf deutlich präsent. So verfügte beispielsweise das im Mai 2025 verbotene „Königreich Deutschland“ (KRD) in Düsseldorf bis Ende 2024 über ein „Leucht-Turm Team“ und eigene Räume, um die Ideologie der Organisation und ihres Anführers Peter Fitzek zu verbreiten und neue Anhänger*innen zu rekrutieren. Reichsbürgerliche Gruppierungen üben eine Scharnierfunktion zwischen der extremen Rechten und esoterisch-verschwörungsgläubigen Milieus wie der zwischenzeitlich sehr ausgeprägten Szene der Pandemie-Leugner*innen aus. So ist es wenig überraschend, dass es bei den KRD-Anhänger*innen personelle Überschneidungen sowohl zu den Corona Rebellen Düsseldorf als auch zur verschwörungsideologischen Partei Die Basis gibt12.

Verschwörungsideologischer Antisemitismus

In der Hochphase der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen zum Infektionsschutz etablierte sich auch und insbesondere in Düsseldorf ein verschwörungsideologisches Milieu, das eine ausgeprägte Affinität zu antisemitischen Erzählungen zur Schau stellte. Als Stichworte können hier NS-Relativierung z.B. in Zusammenhang mit Impfgegnerschaft, die „Great Reset“-Verschwörungstheorie oder auch der QAnon-Mythos, der eine modernisierte Variante mittelalterlicher judenfeindlicher Ritualmordlegenden darstellt, genannt werden. Entsprechende Inhalte wurden durch Aufkleber im Düsseldorfer Stadtbild verbreitet. So wurde z.B. am 21. März. 2022 als Vorfall gemeldet, dass auf Plakaten der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf zu einer Ausstellung zum Thema Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus Sticker mit der Aufschrift „Zwangsgeimpft / Wieder aktuell“ angebracht wurden, was letztlich eine Relativierung der NS-Verbrechen bedeutet13. Das Gewaltpotential des verschwörungsideologischen Milieus wurde spätestens dann erkennbar, als Mitglieder der sogenannten „Corona Rebellen Düsseldorf“ sich an der Erstürmung der Treppe des Berliner Reichstagsgebäudes am 29. August 2020 beteiligten. Auch wenn mit der schrittweisen Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen und der gesellschaftlichen Normalisierung die Szene der verschwörungsideologischen Pandemie-Leugner*innen stark an Bedeutung verloren hat, so haben sie ihr anhaltendes Mobilisierungspotenzial, das inhaltlich flexibel ist, solange bestimmte (auch antisemitische) Narrative bedient werden, bereits bei pro-russischen „Friedens“protesten, Bauerndemos und zu anderen Themen bewiesen.

Religiös begründete judenfeindliche Nischenphänomene

Als eher randständige Akteure, die dennoch in der Aufzählung judenfeindlicher Aktivitäten in Düsseldorf genannt werden sollten, sind zwei Gruppierungen zu erwähnen. Zum einen existiert mit der im „Jesus-Haus“ an der Grafenberger Allee ansässigen Beit Hesed-Gemeinde eine Organisation sogenannter „messianischer Juden“- Diese bezeichnen sich selbst als jüdisch, zielen in ihrem Kern jedoch auf eine Bekehrung von Jüdinnen*Juden zum Glauben an Jesus Christus als Messias und damit auf die Zerstörung des Judentums ab. Derartige Akteure sind insbesondere deshalb gefährlich, weil sie auf den ersten Blick nicht als judenfeindlich zu erkennen sind, sondern durch die intensive Nutzung jüdischer Symbolik und eine positive Bezugnahme auf Israel in der Lage sind, ihren tatsächlichen Charakter zu verschleiern.

Die zweite, ungleich bizarrer anmutende Organisation ist die aus den USA stammende Bewegung Israel United in Christ, die von zutiefst antisemitischen Verschwörungsfantasien geprägt ist und die Behauptung verbreitet, Schwarze Menschen seien die ‚wahren Juden‘14. Mitglieder dieser Gruppierung sind bisher vor allem durch Infostände und Flyerverteilungen am Düsseldorfer Hauptbahnhof aufgefallen.

Das Feindbild Israel als ideologische Klammer - Israelbezogener Antisemitismus

Wenn es um das Thema Israel geht, zieht sich eine kritische, ablehnende bis offen feindselige Haltung wie ein roter Faden durch unterschiedlichste gesellschaftliche Milieus. Auffällig ist, dass besonders der Kulturbetrieb eine Affinität zu israelbezogenem Antisemitismus zu haben scheint. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Debatte um den israelfeindlichen US-Rapper Talib Kweli, der lieber auf den Headliner-Auftritt beim Düsseldorfer Open Source Festival 2019 verzichtete, als sich von der antiisraelischen Boykott-Kampagne BDS zu distanzieren und stattdessen Jüdinnen*Juden bezichtigte, für „Weiße Vorherrschaft“ zu stehen und mit Neonazis und dem Ku-Klux-Klan zusammenzuarbeiten.15Auch die hiesige Hip Hop-Szene fällt immer wieder negativ durch antisemitisch konnotierte Texte, Bildsprache und Statements auf. Für Düsseldorf besonders relevant sind die beiden Rapper Kollegah und Farid Bang, deren antisemitische Textzeilen zunächst kein Hindernis darstellten, den ECHO-Award verliehen zu bekommen, schlussendlich jedoch zur Abschaffung des ECHO führten, da die Marke durch den Skandal irreparabel beschädigt worden war. Auch abseits des kritisierten Textes finden sich vor allem bei Kollegah zahlreiche Beispiele für antisemitische Bezüge und Verschwörungsfantasien, die angesichts der Popularität der HipHop-Kultur bei Kindern und Jugendlichen besonders problematisch sind16. Ausgelöst durch die heftige Kritik besuchten Kollegah und Farid Bang zwar öffentlichkeitswirksam das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, allerdings bezeugen spätere Äußerungen Kollegahs, dass dies lediglich als PR-Manöver einzustufen war.17

Auch der Bereich der sogenannten Hochkultur ist keinesfalls frei von antisemitischen Einstellungen und einer latenten bis offenen Israelfeindlichkeit. Ebenfalls in Zusammenhang mit den antiisraelischen Boykottkampagnen initiierten führende Vertreter*innen der renommierten Düsseldorfer Kultureinrichtungen Tanzhaus NRW und Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) die Erklärung „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“; das Schauspielhaus Düsseldorf unterzeichnete später. Die Erklärung richtet sich gegen einen Beschluss des Deutschen Bundestags, der verhindern soll, dass BDS und vergleichbare Akteur*innen von staatlichen Ressourcen profitieren.

Auch zu konkreten Bedrohungssituationen für erkennbar jüdische Menschen im öffentlichen Raum ist es in Düsseldorf bereits gekommen. So wurde der Rabbiner der orthodoxen Chabad-Gemeinde auf der Roßstraße von einem Mann verfolgt und bedroht, der ihn beschimpfte und dabei immer wieder Israel erwähnte18.

Im islamistischen Spektrum ist die am 05.05.2021 verbotene islamistische Gruppierung Ansaar International (ehemals Ansaar Düsseldorf) erwähnenswert, der vorgeworfen wurde, Spenden für die Hamas zu sammeln. In letzter Zeit sind zudem Einzelpersonen aus dem salafistischen Spektrum aufgefallen, die sich auf Social Media präsentieren und sich gleichzeitig im Zusammenhang mit dem Versammlungsgeschehen auf der Straße sehr aktiv einbringen. Generell ist eine zunehmende Bedeutung von Influencer*innen bei der Mobilisierung für israelfeindliche Demonstrationen und Kundgebungen feststellbar, wie das Beispiel Serhat Sisik zeigt, der auf TikTok unter dem Pseudonym „Aggressionsprobleme“ firmiert und auf einer israelfeindlichen Demonstration in Düsseldorf als Redner auftrat19.

Ein wiederkehrendes Muster stellt der Zusammenhang von militärischer Eskalation zwischen Israel und palästinensischen Terrorgruppen einerseits und einem sich höchst dynamisch entfaltenden Protestgeschehen hierzulande andererseits dar. Diese Korrelation wurde in den letzten Jahren immer wieder deutlich sichtbar und ging jeweils mit einer massiven Zunahme antisemitischer Vorfälle einher. So kam es beispielsweise im Mai 2021 landesweit zu zahlreichen Vorfällen, häufig bei Versammlungen. In Düsseldorf gab es am 10.05.2021 einen Brandanschlag auf den Gedenkstein zur Erinnerung an die von den Nationalsozialisten zerstörte Synagoge an der Kasernenstraße; drei Tage später wurde eine vor dem Rathaus gehisste Israel-Flagge angezündet. Die am nächsten Tag ersetzte Flagge wurde durch einen Passanten bespuckt. Bei Kundgebungen und Demonstrationen wurden zahlreiche antisemitische Parolen verbreitet, die Israel dämonisieren und die Shoah relativieren.

Der 7. Oktober 2023 als Zäsur und Katalysator

Der Phänomenbereich des israelbezogenen Antisemitismus ist bereits seit langem die vorherrschende Erscheinungsform zeitgenössischer Judenfeindschaft. Dieser Befund hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas und verbündeter Terrorgruppen auf Israel vom 7. Oktober 2023 noch einmal drastisch verschärft. Dieser Tag markiert den Auftakt zu einer immer weiter um sich greifenden antisemitischen Enthemmung, die sich weltweit und auch hierzulande in erschreckender Deutlichkeit offenbart. So dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) NRW im Zeitraum zwischen dem 7. Oktober und 31. Dezember 2023 432 antisemitische Vorfälle (Gesamtanzahl 2023: 664 Vorfälle), was einem Durchschnitt von 5 Vorfällen pro Tag entspricht.20 Bei 93 % dieser Vorfälle gab es eine direkte Bezugnahme auf das Hamas-Massaker.21 Seitdem hat sich das Vorfallsgeschehen auf einem hohen Niveau verstetigt, was eine markante Veränderung zu vergangenen Dynamiken wie z.B. im Mai 2021 darstellt, als die Vorfallszahlen nach einiger Zeit spürbar zurückgingen.

Am 04. November 2023 fand in Düsseldorf eine der größten israelfeindlichen Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik mit ca. 17.000 Teilnehmenden, die zahlreiche antisemitische Äußerungen tätigten, statt.22 So wurde die militärische Offensive auf mehreren Plakaten mit dem Holocaust gleichgesetzt, der israelische Ministerpräsident Netanyahu mit Adolf Hitler verglichen und palästinensische Kinder mit Anne-Frank-Referenzen dargestellt. Auch auf weiteren Demonstrationen wurden wiederholt vergleichbare Aussagen getroffen. Zudem wurden Kindermord-Vorwürfe, die an mittelalterliche Ritualmordlegenden anknüpfen, und unverhohlene Aufrufe zur Vernichtung Israels durch die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ getätigt. Die zeitweise im wöchentlichen und im Frühjahr 2025 in der Regel immer noch im zweiwöchentlichen Turnus stattfindenden Versammlungen tragen so zu einer massiven Verunsicherung für Jüdinnen*Juden bei und führen zu Einschränkungen im Alltag, da aufgrund von Sicherheitsbedenken empfohlen wurde, den Bereich der Innenstadt vor, während und nach den Demonstrationen zu meiden. Als besonders perfide sind Provokationen und Gegenaktionen zu den israelsolidarischen Demonstrationen von „Run for their Lives“ zur Solidarität mit den Hamas-Geiseln zu bewerten, bei denen die Betroffenen des Hamas-Terrors und mit ihnen solidarische Menschen durch Parolen verhöhnt wurden. Auch darüber hinaus gab es eine Vielzahl kleinerer Aktionen wie Flashmobs, Kundgebungen oder spontaner Versammlungen, was die Unsicherheit für Jüdinnen*Juden sowie israelsolidarische Personen noch einmal erhöht hat.

Auch an den Düsseldorfer Hochschulen kam und kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. So wurde beispielsweise an der Heinrich-Heine-Universität das Plakat zur Unterstützung der „Bring them home now“-Kampagne mit den Porträts der Geiseln mehrfach beschmiert und zu zerstören versucht. Auch gab es für mehrere Wochen ein pro-palästinensisches Protestcamp. Am 12. Juli 2024 wurde bekannt, dass an verschiedenen Stellen im Bereich der Universität volksverhetzende und vernichtungsantisemitische Schmierereien festgestellt wurden.23 Bei einem „Protestcamp“ wurde und bei Versammlungen wird israelbezogener Antisemitismus in Bild und Wort verbreitet. Währenddessen scheint sich der AStA der HHU mehr um den Umgang mit propalästinensischem Aktivismus zu sorgen, als sich solidarisch an die Seite jüdischer Studierender zu stellen. So ist der AStA unter den Erstunterzeichner*innen eines offenen Briefs von Students4Palestine und dem SDS und hat diesen auf seiner Internetpräsenz eingestellt24, während eine Solidaritätsbekundung mit Jüdinnen*Juden nach dem 7. Oktober an dieser Stelle nicht zu finden ist.

Fazit

Wie mit diesem Artikel dargestellt wurde, sind Jüdinnen*Juden in Düsseldorf mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Ausdrucksformen von Antisemitismus konfrontiert, die eine kontinuierliche latente Bedrohungslage erzeugen. Im Gegensatz zu früheren antisemitischen Dynamiken sind die Vorfallszahlen nach dem 7. Oktober und dem anschließenden israelischen Verteidigungskrieg auf einem hohen Niveau geblieben. Nach wie vor ist der israelbezogene Antisemitismus die vorherrschende Erscheinungsform und wird immer offener und enthemmter zum Ausdruck gebracht. Auch abseits dessen zeigen die aufgeführten Beispiele, dass in Düsseldorf eine Vielzahl unterschiedlichster antisemitischer Akteur*innen in Erscheinung treten, von extrem rechten Personen und Organisationen über verschwörungsideologische Milieus hin zu islamistischen sowie anderweitig religiös motivierten Gruppierungen.

Dem gegenüber steht jedoch eine selbstbewusste Jüdische Gemeinde mit einem vielfältigen Gemeindeleben, die den ihr zustehenden Platz in der Gesellschaft aktiv ausfüllt und, da wo es notwendig ist, auch behauptet. Hierfür hat die Gemeinde bereits 2017 die Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit SABRA gegründet, die sich als Anlaufstelle für Betroffene und als Bildungsträger für die Stärkung jüdischer und antisemitismuskritischer Perspektiven einsetzt. Auch die Etablierung der Meldestelle für antisemitische Vorfälle RIAS NRW als Teil des bundesweiten RIAS-Netzwerks ist ein Meilenstein für die Sichtbarmachung des Ausmaßes von Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen und die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Betroffenen. Diese Errungenschaften gilt es – mit Blick auf die zunehmende gesellschaftlich-politische Polarisierung und Radikalisierung – zu verteidigen und weiter auszubauen.

Quellen

[1] So lieferte z.B. eine operative Fallanalyse des LKA entsprechende Hinweise auf die Motivation des Täters. Vgl. https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/profiler-des-lka-brachten-ermittler-auf-spur-von-ralf-s_aid-17633231

[2] Detlev Claussen (2005). Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt am Main.

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_antisemitischen_Anschl%C3%A4gen_und_Angriffen_im_deutschsprachigen_Raum_nach_1945#Chronologische_Auflistung

[4] Jeffrey Herf. Unerklärte Kriege gegen Israel, S.210

[5] Ronen Steinke. Terror gegen Juden, S.184

[6] Vgl. https://www.nrz.de/staedte/duesseldorf/article11021909/als-gerresheim-noch-eine-synagoge-hatte.html

[7] Ronen Steinke. Terror gegen Juden, S.191

[8] Vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/antisemitismus-und-die-afd-99509/

https://www.boell.de/de/2024/07/01/die-afd-und-ihr-verschleierter-antisemitismus

https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/78/afd-keine-alternative-fur-juden

[9] R. Steinke. Terror gegen Juden. S.206

[10] Ebd. S.206

[11] Ebd. S.223

[12] Mia Hill / Zoey Heine / Rina Wrona (2024). “Wenn ich König von Ganz-Deutschland wär. NRW als Zentrum der Ausbreitung des ‚Königreichs Deutschland‘“ in: Lotta Magazin 01/2024. https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/94/wenn-ich-konig-von-ganz-deutschland-war/

[13] Vgl. RIAS NRW (2023). Antisemitische Vorfälle in NRW 2022, S.29.

[14] Dies steht in keinem Zusammenhang zu der Tatsache, dass es selbstverständlich Schwarze Jüdinnen*Juden gibt.

[15] https://www.wz.de/nrw/duesseldorf/open-source-festival-talib-kweli-wegen-antisemitismus-ausgeladen_aid-39250367

[16] Vgl. Baier, Jakob. Antisemitismus im deutschsprachigen Gangsta Rap, https://www.anders-denken.info/orientieren/antisemitismus-im-deutschsprachigen-gangsta-rap

[17] Vgl. https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/kollegah-und-der-holocaust/

[18] https://www.welt.de/politik/deutschland/article195573453/Antisemitismus-Rabbiner-fordert-besseren-Schutz-fuer-Juden.html

[19][19] https://jungle.world/artikel/2023/46/influencer-gegen-israel

[20] Vgl. RIAS NRW. Antisemitische Vorfälle in Nordrhein-Westfalen 2023, S. 37.

[21] Ebd.

[22] https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/duesseldorf-17000-teilnehmer-bei-pro-palaestinensischer-demo-protest-weitgehend-friedlich_aid-100857441

[23] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/antisemitische-schmierereien-an-universitaet-duesseldorf/

[24] Vgl. https://astahhu.de/elementor-8206/

Eingewandert aus der (ehemaligen) Sowjetunion

Viel ist über die heterogene Gruppe der Betroffenen des Wehrhahn-Anschlags nicht bekannt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie kurze Zeit vor dem Anschlag aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert waren. Sechs von ihnen galten als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge, andere als Russlanddeutsche. Heute wird der Anschlag auf diese Gruppe als antisemitisch und rassistisch erinnert. Vieles spricht dafür, dass der Täter (oder die Täter:innen) die Gruppe mit der Bombe töten wollte, weil er sie als „jüdisch“ und „russisch“ bzw. „slawisch“ wahrgenommen hatte, sich also eine antisemitische Motivation mit einem anti-osteuropäischen Rassismus verschränkte. 

Aktuell leben rund 4,5 Millionen Menschen mit einer osteuropäischen Migrationsgeschichte in Deutschland. Bis 2018 wanderten ca. 2,5 Millionen Russlanddeutsche und rund 220.000 jüdische Kontingentflüchtlinge ein. Hinzu kommen hunderttausende Geflüchtete, darunter auch viele Juden und Jüdinnen, aus der Ukraine seit der Annexion der Krim im März 2014. Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 brachte einen neuen, noch stärkeren Anstieg. Diese Fluchtbewegung hält bis heute an. Dazu kommt eine schwer zu schätzende Anzahl von Russ:innen, die das Land seit dem Krieg auch Richtung Deutschland verlassen haben.

Die Geschichte der beiden betroffenen Einwanderungsgruppen ist heute wenig präsent. Auch Anfeindungen und Gewalttätigkeiten, die Menschen mit diesen Migrations- und Fluchtgeschichten aufgrund ihrer Herkunft aus Osteuropa erleben, spielen bisher in der öffentlichen Wahrnehmung selten eine Rolle. Deswegen soll es im Folgenden darum gehen, die historischen Hintergründe der Zuwanderung der beiden Gruppen grob zu skizzieren, auf die der Sprengstoffanschlag zielte. Im Anschluss wird der anti-osteuropäische Rassismus als spezifische Form des Rassismus beschrieben werden.

Russlanddeutsche und Spätaussiedler:innen – bis heute benachteiligt

Die beiden Bezeichnungen können hier synonym verwendet werden. Russlanddeutsche meint Nachfahr:innen deutscher Siedler:innen, die bereits im 18. Jahrhundert als Arbeitskräfte vom russischen Kaiserreich angeworben wurden und sich dort in verschiedenen Gebieten ansiedelten. Seitdem existierte erst in Russland, später in der Sowjetunion, immer eine deutsche Minderheit, die sich die deutsche Sprache und Versatzstücke deutscher Kultur teilweise erhielt. Vor allem während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit wurden Russlanddeutsche in der Sowjetunion Opfer mehrfacher Vertreibungen, Verschleppungen und Verbannungen. Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gelten sie und ihre Nachkommen als Deutsche, denen die Rückkehr mit dem Mauerfall möglich wurde. Ab 1993 wurden sie als Spätaussiedler:innen bezeichnet.

Ihre Aufnahme in die bundesdeutsche Gesellschaft wurde im Vergleich zu anderen, im selben Zeitraum ankommenden Migrant:innen zu Beginn recht intensiv unterstützt: Sie erhielten nach Anerkennung als Spätaussiedler:innen die deutsche Staatsbürgerschaft, umfassende finanzielle Start- und Eingliederungshilfen und Deutschkurse, zudem wurde ihre Berufstätigkeit in der ehemaligen UdSSR mit einer sehr einfach zu erfüllenden Nachweispflicht für das deutsche Rentensystem angerechnet. „Diese Maßnahmen wurden jedoch aufgrund des insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre intensiven Zuzugs von über 200.000 Menschen pro Jahr genau dann zurückgefahren, als sie am meisten benötigt wurden“, stellt Jannis Panagiotidis fest, der als Historiker zur Migration aus Osteuropa forscht. Dies führte zu ökonomischer Benachteiligung, vor allem bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Viele Ausbildungen und akademische Abschlüsse der Spätaussiedler:innen wurden nicht anerkannt, berufliche Karrieren ignoriert, so dass der Neuanfang in Deutschland in der Regel einen sozialen Abstieg bedeutete. Die Betroffenen waren auch in der Wahl des Wohnortes oder der Schule für ihre Kinder stark eingeschränkt. Diese Hürden von damals haben Auswirkungen bis heute: Auch wenn sich die meisten russlanddeutschen Haushalte ein Einkommen erarbeiten konnten, das fast an den Durchschnitt von Haushalten ohne Migrationsgeschichte heranreicht, sind Russlanddeutsche nach wie vor häufiger von staatlicher Unterstützung abhängig als Bevölkerungsgruppen ohne Migrationsgeschichte und somit strukturell benachteiligt. 

„Jüdischer Kontingentflüchtling“ – Ein rechtlicher Status

Der Begriff „Kontingentflüchtlinge“ ist ein behördlicher und beschreibt einen juristischen Status, als Selbstbezeichnung wird er nicht verwendet. Grundsätzlich bezeichnet er Menschen, von denen eine festgelegte Menge, also ein Kontingent, aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen von einem Staat aufgenommen wird, ohne dass individuelle Asylanträge gestellt werden müssen. Bezogen auf die Einwanderung von Juden und Jüdinnen nach Deutschland wurde der Begriff seit 1991 verwendet, seit die Ministerpräsidentenkonferenz am 9. Januar beschloss, das Kontingentflüchtlingsgesetz auf Juden und Jüdinnen anzuwenden. Im Gegensatz zu den Spätaussiedler:innen aus der ehemaligen Sowjetunion erhielten jüdische Kontingentflüchtlinge nicht automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, konnten diese aber nach bestimmten Fristen beantragen. Sie hatten Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis, Sozialleistungen und Integrationshilfen, wie einen kostenlosen Sprachkurs und die Unterstützung bei der Wohnungssuche. Rentenansprüche auf im Ausland geleistete Arbeit bestand dagegen nicht – womit der Status jüdischer Kontingentflüchtlinge gegenüber dem der Spätaussiedler:innen schlechter gestellt wurde. Bis heute sind erstere überdurchschnittlich oft auf Sozialleistungen angewiesen, weil die Rente aus Erwerbstätigkeit in Deutschland nicht ausreichen kann. 2005 trat ein neues Zuwanderungsgesetz in Kraft, das die jüdische Einwanderung nach Deutschland nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz beendete und strengere Kriterien einführte. Wer heute eine Einreiseerlaubnis als Jude oder Jüdin beantragt und nicht vor 1945 geboren ist, muss in der Regel Deutschkenntnisse, eine positive Integrationsprognose und die Zusage nachweisen, Mitglied in einer jüdischen Gemeinde werden zu können. 

Flucht vor dem Antisemitismus aus der Sowjetunion – eine lange Geschichte seit der Shoa

Etwa 1,5 Millionen Juden und Jüdinnen waren im „Holocaust durch Kugeln“ von deutschen SS-Männern, Polizisten und Wehrmachtssoldaten, sogenannten Einsatzgruppen, in den besetzten Gebieten der Sowjetunion massenhaft hingerichtet worden. Ca. 500.000 jüdische Soldat:innen hatten im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gegen die nationalsozialistische Wehrmacht gekämpft, jüdische Partisan:innen in ihre Reihen aufgenommen und überlebende Angehörige aus den Vernichtungslagern befreit. Jeder und jede Überlebende hatte Millionen verloren und zu betrauern. 

Ehemalige Soldaten der Roten Armee (Jerusalem, Israel, 2001), Quelle: Online-Bildarchiv Yad Vashem, 14710/5, https://collections.yadvashem.org/en/photos/14688974

Obwohl es auch deswegen eine hohe Bereitschaft jüdischer Menschen gab, sich mit der Sowjetunion zu identifizieren, spielte die Shoa in der sowjetischen Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Der staatlich verordnete Atheismus hatte einen sehr hohen Anpassungsdruck zur Folge, die Ausübung von Religion und eine Sichtbarkeit jüdischen Lebens waren kaum möglich. Jüdische Identitäten wurden marginalisiert, unsichtbar gemacht und von den Betroffenen nach Möglichkeit verschwiegen, teils sogar innerhalb der eigenen Familie, um die Kinder nicht Opfer von Antisemitismus werden zu lassen. Zu Beginn noch offen arbeitende zionistische Gruppen organisierten sich gezwungenermaßen im Untergrund.
Die behördliche Identifikation jüdischer Menschen fiel leicht, denn Jüdischsein wurde in der Sowjetunion als ethnisch-nationale Kategorie betrachtet. Im Gegensatz zur religiösen (halachischen) Auslegung, die ein Kind als jüdisch definiert, wenn die Mutter jüdisch ist, galten in der Sowjetunion für den Staat diejenigen als jüdisch, die einen jüdischen Vater hatten. In den Ausweisen stand "evrej" ("Hebräer", Jude), was in der Schule, bei der Bewerbung an einer Universität, bei der Wohnungssuche und Berufswahl zu Diskriminierung führte. Ein gesellschaftlicher Aufstieg mit einem Passeintrag als Jude oder Jüdin war in der Sowjetunion unwahrscheinlich. Der Antisemitismus im Inneren spiegelte sich in der Außenpolitik wider. Anfänglich stand Stalin der israelischen Staatsgründung noch positiv gegenüber, was sich aber schnell zu Gunsten eines positiven Verhältnisses zu den arabischen Staaten änderte. Eine antisemitische Säuberungswelle fegte von 1948 bis 1953 auch über jene hinweg, die die KZ als jüdische Kommunist:innen überlebt hatten. Sie galten nun als „Agenten des Liberalismus“ und „Kosmopoliten“ oder fielen als „Zionisten“ in Ungnade. Bis in die 1980er Jahre hinein war Antizionismus staatliche Doktrin der Sowjetunion und wurde von entsprechender antisemitischer Agitation und Ausgrenzung innenpolitisch begleitet. Die Ausreise aus der Sowjetunion war für alle Bürger:innen nahezu unmöglich, Anträge wurden selten genehmigt. Von 1954 bis 1964 gelang es nur 1.542 Juden und Jüdinnen die Sowjetunion in Richtung Israel verlassen. Ab 1965 stieg die Zahl der Ausreisegenehmigungen. Laut dem Historiker Frank Grüner war es vor allem „den Auswirkungen des Sechstagekrieges zwischen Israel und den arabischen Staaten 1967 geschuldet, dass die Situation für die sowjetischen Juden aufgrund der massiven antizionistischen Propaganda und antisemitischen Stimmungen in der Sowjetgesellschaft zunehmend unerträglich wurde und der öffentliche Druck auf die Sowjetführung nach Genehmigung von Ausreisen anstieg“.

Juden und Jüdinnen protestierten auf dem Bundesplatz in Bern gegen die Inhaftierung und Unterdrückung von Juden und Jüdinnen in der UdSSR, 24. Mai 1972. Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Seit den 1970er Jahren hatten ca. 70.000 Juden und Jüdinnen der Sowjetunion den Rücken gekehrt. Die Perestroika, die Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse, die ab 1986 unter Michail Gorbatschow in der Sowjetunion einsetzte, brachte für die meisten Juden und Jüdinnen massive Verunsicherungen. Mit der neu errungenen Meinungs- und Pressefreiheit kam nun auch zum Ausdruck, dass der Antisemitismus nicht nur von oben ausgeübt worden war, sondern gesellschaftlich verankert war. Russisch-nationalistische und extrem rechte Kräfte äußerten sich offen antisemitisch. Unter den ca. 1,5 Millionen Juden und Jüdinnen grassierte die Angst während der Wirren Opfer von Pogromen zu werden. Massenhaft wurden Juden und Jüdinnen entlassen, drangsaliert und zur Ausreise gezwungen, was deutliche Folgen hatte: Bis 1989 verließen etwa 11% der jüdischen Sowjetbevölkerung aller Schwierigkeiten zum Trotz die SU und weitere Staaten des Ostblocks. Mit der offiziellen Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 kam diese jüdische Emigration zu ihrem Höhepunkt. Beliebte Ziele waren die USA, Israel und Deutschland. Deutschland versprach politische Sicherheit, war wirtschaftlich stabil und hatte geringe Hürden, so dass sich viele für den Versuch entschieden, dort ein neues Leben aufzubauen. Die Einwanderung von jüdischen Kontingentflüchtlingen nach Deutschland dauerte bis Ende 2004 an. 2003, nach den Gewaltausbrüchen der sogenannten zweiten Intifada entschieden sich sogar mehr Juden und Jüdinnen für die Einwanderung nach Deutschland (ca. 15.000) als nach Israel (ca. 12:000). 
Doch in Deutschland angekommen mussten viele Juden und Jüdinnen die Erfahrung machen, dass ihnen auch hier  Antisemitismus in seinen verschiedenen Formen entgegenschlug – teilweise verschränkt mit einer Ablehnung gegen ihre osteuropäische Herkunft.

Antislawismus – wenn es gegen Menschen aus Osteuropa geht

Menschen mit einer osteuropäischen Migrationsgeschichte erleben eine spezifische Form gesellschaftlicher Diskriminierung, die sich aus einer langen Geschichte der westlichen Abwertung und Ausbeutung von Menschen in und aus Osteuropa speist. Im biologistisch begründeten Rassismus gegen „das Slawentum“ der Nazis und deren ideologischem Krieg gegen den „russischen Bolschewismus“ fand diese ihren gewaltsamen Höhepunkt. Der Kalte Krieg verfestigte alte Feindbilder und sorgte für neue, auch kulturrassistische Stereotype. Ressentiments gegen „den Russen“ oder „die Polen“ bestehen bis heute und sind für jene deutlich zu verspüren, die von dieser Form des anti-osteuropäischen Rassismus betroffen sind. Kritik an dieser Diskriminierung wird zunehmend sichtbar, auch weil sich Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte als Teil einer Post-Ost-Community mit ihren Erfahrungen zu Wort melden. Sie verweisen dabei auch mehrfache Diskriminierung, denn von Antislawismus kann ein osteuropäischer Jude aus Warschau ebenso betroffen sein wie eine nicht-Jüdin aus Kiew, eine Muslima aus Baku oder ein Rom aus Skopje. Allerdings gibt es auch Einwände gegen die Verwendung des Begriffs des anti-osteuropäischen Rassismus: Die Betroffenen würden in Deutschland nicht als people of colour, sondern überwiegend als Weiße gelesen und hätten weniger Probleme im Alltag, da ihnen sogenanntes passing möglich sei, sie sich also unerkannt in der Mehrheitsgesellschaft bewegen könnten. Befürworter:innen des Konzepts halten dagegen, dass diese Möglichkeit sehr begrenzt sei, weil Rassist:innen andere Merkmale, wie zum Beispiel den Namen oder die Sprache nutzen würden, um Betroffenen die Rolle als „Osteuropäer“ zuzuschreiben. Wie viele Menschen Opfer physischer Gewalt wurden, weil sie als „Russen“ angegriffen wurden, ist unbekannt; die Kategorie wird nicht erfasst und das Dunkelfeld ist groß. Die Amadeu Antonio Stiftung dokumentiert seit 1990 rechtsextreme Morde in Deutschland; aktuell sind es mindestens 221 Todesopfer und Dutzende Verdachtsfälle. Unter den Ermordeten sind mindestens sieben Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und vier Polen. Die Namen der Toten – wie etwa der von Kajrat Batesov, der 2002 in Wittstock angegriffen und beschimpft wurde und später seinen Verletzungen erlag – werden zu selten erinnert.

Kajrat Batesov, damals 24 Jahre alt, wird 2002 in Süddeutschland von Neonazis als „Russe“ beleidigt und angegriffen, er stirbt wenige Tage später in Folge der Verletzungen. Quelle: Opferperspektive